Quito – Riobamba und Aufenthalt bei der Gastfamilie – oder: Das Kennenlernen einer bekannten Welt

Ausschnitte der ersten Rundmail…
Seit 4 Tagen bin ich nun bei meiner Gastfamilie in Riobamba. Die 4 Tage bis dahin in Quito waren sehr schoen. Mit Maritza, Yadira und Wilo (meinen Gastgeschwistern) habe ich in einer Art geschwisterlichen WG im Apartement in Quito gelebt. Wilo und ich haben die Zeit in Quito hauptsaechlich damit verbracht wie Touristen die Stadt zu erkunden. Da ja ausser Maritza und Yadira noch mehr Familie in Quito wohnt, habe ich auch tio Gido, tio Rodriguez, tia Gloria, prima Juanita, prima Janina, tia Juanita, el abuelo und die sobrina Christel wiedergesehen. Einen Abend waren wir eingeladen im Haus von Gido, wo neben seiner Familie (Frau, 2 Toechter und die Enkelin) auch der 96-jaehrige Opa und die nichtverheiratete Tante wohnen. Fuer Wilo und mich wurde eine Willkommensfeier ausgerichtet. Natuerlich kamen noch weitere Familienmitglieder – und so wurde auf der Terasse ein Grill angemacht (der Grill bestand aus einer Schubkarre und einem Gitter) und etwa 15 Kg Fleisch gebruzelt. Der Abend war sehr, sehr schoen. Wilo hat viele Photos aus Europa gezeigt und es wurde natuerlich viel darueber diskutiert, was wo besser ist und wer was von wem lernen sollte und warum es schoen und wichtig ist zu reisen…
Dabei ist mir wieder einmal aufgefallen., dass die Ecuadorianer ja schon mit der Muttermilch eine tiefe Lebensweisheit einsaugen, die sie Zeit ihres Lebens nicht wieder vergessen koennen. Diese Weisheit besteht in der Tatsache (!), dass Ecuador das schoenste, lebenswerteste und an Flora, Fauna, ethnischen Gruppierungen, Bodenschaetzen, etc. reichste Land der Welt ist. Sehr irrigierend war es daher fuer tio Gido, dass es in Europa auch sehr hohe und schoene Berge gibt. Bis dahin war Gido der Meinung, dass Europa, zumindest was die Natur angeht bei weitem nicht mit Ecuador mithalten kann. Es wurde also viel ueber die Landschaft und die Beschaffenheit der Berge diskutiert. Erst als Gido feststellen konnte, dass die Berge in Europa nicht so hoch sind wie in Ecuador konnte er sich wieder beruhigt zuruecklehnen und sich seinem Bier witmen. Nein, dieser tiefsitzende Nationalstolz ist wirklich durch nichts zu erschuettern. Und zum Glueck ist das ja auch nicht meine Mission! Ich wunder mich nur daruber, dass die Ecuadorinaer immer herausstellen muessen, dass ihr Land so besonders und einmalig ist…Aber vielleicht koennen wir deutschen uns von dieser nationalen Umgehensweise ja auch ein kleines Stueckchen abschneiden…

Thema: “Carlos Garbay” und Behinderung (vielleicht nicht fuer jeden interessant…)
Seit Donnerstag habe ich bei meiner Gastmutter Gloria in ihrer Schule (Carlos Garbay – eine Schule fuer behinderte Kinder) hospitiert. Lustig war, dass ich am ersten Tag meiner Hospitation mein Diplomzeugnis aus Dortmund zugestellt bekommen habe. So hat sich auf eine schoene Weise ein Kreis in meinem Leben geschlossen, denn in Carlos Garbay hat ja gewissermassen alles vor 9 Jahren angfangen. In Glorias Schule habe ich meine ersten Kontakte zu behinderten Kindern gehabt und hier ist mein Interesse an dieser Arbeit entstanden. Besonders interessant ist es aber auch, jetzt fuer mich mit wesentlich erfahreneren Augen die Arbeit in der Schule verstehen und beurteilen zu koennen. Und da bin ich,- besonders nachdem ich ja auch verschiedene Einrichtungen in Prag und Umgebung gesehen habe, – sehr angetan von der Arbeit und den Bedingungen der Schule meiner Gastmutter. (Um eine Idee von der Groesse der Schule zu bekommen: Sie hat 300 Kinder zwischen 0 und 20 Jahren und es arbeiten ca. 50 Personen in der Schule. Neben den Lehrern arbeiten auch Physiotherapeuten, Logopaeden, Ergotherapeuten, eine Fruehfoerderspezialistin, ein Psychologe und ein Arzt in der Schule. So kommt ein schoenes interdisziplinaeren Team zustande.)
Wie gesagt gibt es auch eine Person, die fuer die Fruehfoerderung zustaendig ist. Eine Person fuer eine Stadt von 100.000 Einwohnern (plus umliegende Doerfer und Staedte) ist natuerlich nicht viel…, – aber ich war ueberrascht und davon begeistert, dass es ueberhaupt ein Bewusstsein fuer eine paedagogische und therapeutische Foerderung gibt, welche vor dem Eintritt in die Schule beginnt. Interessanterweise ist die Fruehfoerderung aehnlich wie in Deutshland strukturiert: am Jahresbeginn treffen sich die Therapeuten um gemeinsam einen Therapieplan auszuarbeiten. Zuvor macht eine Person jeder Profession seine eigene Diagnose, dann gibt es eine Teamsitzung in der die Diagnosen und Pflegeplanvorschlaege vorgestellt werden und schliesslich wird gemeinsam ueberlegt, wie der Pflegeplan des jeweiligen Kindes aussehen soll.
Die Foerderung, die den Kindern in der Schule zuteil wird ist nach meiner Erfahrung und Beurteilung recht professionell. Das Problem bei der Foerderung behinderter Kinder in Ecuador ist allerdings, das nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Kinder, die einer spezielle Foerderung beduerfen, auch tatsaechlich erreicht und gefoerdert werden. Vor allem auf dem Land wo hauptsaechlich Indios leben und wo es aufgrund der schlechten Versorgung, dem geringen Grad an Bildung, der fehlenden medizinischen Versorgung, etc. eine Vielzahl behinderter und auffaelliger Kinder gibt, gibt es im Grund gar keine Foerderung.
Bei der Fruehfoerderspezialistin (um nicht Fruehfoerdertante zu sagen!), Rosita, habe ich bereits 2 Tage hospitiert. Sie arbeitet nicht nur in der Schule sondern fuehrt auch nachmittags privat bei sich zu Hause Foerderungen durch. Ansosnten wuerde, wie sie mir sagte, das Geld fuer sie und ihre Tochter nicht reichen. Therapiert werden vor allem Kinder von Eltern die sich und anderen nicht eingestehen koennen oder wollen, dass ihr Kind eine Behinderung oder Entwicklungsverzoegerung hat. Denn wuerden sie sagen, dass ihr Kind zur Schule “Carlos Garbay” geht, wuerde ja jeder wissen, dass sie ein auffaelliges Kind haben… – Umgang mit dem Thema “Behinderung” scheint mir also nicht viel anders zu sein als in Europa (zumindest hier in der Stadt).

Ich finde es immer wieder erstaunlich festzustellen, wie viele Ecuadorianer Verwandte und Bekannte in Spanien und den USA haben. In Ecuador gibt es beispielsweise ca. 12 Millionen Ecuadorianer und in Spanien leben mittlerweile schon 3 Millionen Ecuadorianer. So ist es kein Wunder, dass jeder irgendwen in Spanien kennt. Da in Ecuador kaum spezielles Material fuer die Arbeit mit behinderten Kindern hergestellt wird, lassen sich viele Lehrer und Therapeuten Foerdermaterial aus den USA und Europa schicken (was dann privat bezahlt wird!). Doch das Fehlen von Foerdermaterial scheint auch die Kreativitaet anzukurbeln. In der ganzen Schule finde ich sehr schoenes, mit viel Liebe und guten Ideen selbst hergestelltes Arbeitsmaterial fuer die Kinder.

Weitere Anekdoten am Rande:

Maritza (meine Gastschwester) ist wegen der Wahlen fuer das Wochenende aus Quito nach Riobamba gekommen. Morgen werden landesweit Wahlen stattfinden in denen der ecuadorianische Bundestag gewahlt wird. Da sich sogut wie jeder aufstellen lassen , gibt es landesweit einige Tausend Kandidaten. Entsprechend der Einwohnerzahl der Staedte gibt es aber “nur” jeweils einige 100 Kandidaten. Jeder hat entsprechend der Stadt, in der man wahlen geht zwischen 20 und 48 Stimmen. Ein grosses Durcheinander! In Riobamba muss (!) meine Familie zwischen ca. 600 Kandidaten hoechstens 24 und mindestens einen auswaehlen. Man muss also nicht alle Stimmen die man hat auch geben. Ich durchschaue das politische System in Ecuador nicht wirklich – und ich habe den Eindruck, dass auch die Ecuadorianer dieses System nicht wirklich durchschauen. Die Wahlen, die stattfinden werden eher zum Anlass genommen, seine Familie wiederzusehen. Daher nimmt auch kaum jemand in Ecuador die Moeglichkeit in Anspruch, bei einem Umzug seinen offiziellen Wohnort (die Registrierung) zu wechseln. So ist man gewissermassen auf eine positive Weise gezwungen bei den Wahlen seine Familie zu besuchen, – denn in Ecuador gibt es keine Wahlfreiheit, – sondern eine Wahlpflicht. Wenn jemand ohne aerztliches Attest nicht waehlen geht, muss diese Person 20 $ bezahlen…und das ist hier sehr viel. Natuerlich arten diese Familienzusammenkuefte haeufig in Alkoholexesse aus. Um das verhindern, oder zumindest zu unterbinden ist es 48 Stunden vor den Wahlen verboten, Alkohol auszuschenken oder zu verkaufen.

Mittwoch frueh werde ich mich auf den Weg zur Kueste nach San Pedro machen. Da freue ich mich schon sehr drauf! Nicht zuletzt deswegen, weil es hier im Moment doch ziemlich kalt ist. Ich laufe mit zweit dicken Pullovern im Haus herum um nicht zu frieren. Das wird sich an der Kueste rasant aendern…

Uebrigens habe ich keine Adresse (es gibt keinen Postboten) und auch keine Telefonnumber in San Pedro. Dafuer hoffe ich, dass es stimmt, dass es in dem Ort Internet (und somit email!!!) gibt um nicht voellig von der Welt abgeschnitten zu sein…